Authentische Gemeinschaft – wie geht das?

Seit Jahren träume ich einen Traum: Diese besondere gemeinschaftliche Energie, die sich in guten Seminaren aufbaut, nicht nur auf ein Wochenende zu beschränken, sondern sie auch in einer Lebensgemeinschaft zu verwirklichen. Ich träume diesen Traum, weil ich es schon konkret erlebt habe. Nur hatten diese sehr intensiven Gemeinschaften einen Haken: Es gab einen Guru und ideologische Strukturen. Ohne diesen Pferdefuß scheint es diese Intensität in Lebensgemeinschaften kaum zu geben. Entweder es fehlt eine gewisse Tiefe, bzw. die dafür notwendige Verbindlichkeit, oder es gibt sie, aber dann nur mit Hilfe von Guru und/oder Ideologie. Die große Frage ist, wie schafft man es, diese Intensität in Gemeinschaften zu verwirklichen. Welche Strukturen braucht man, wie oft muss man sich treffen, welche Methoden sind dafür geeignet?

Durch Zufall bin ich vor einigen Jahren auf das Buch "The Different Drum " von Scott Peck gestoßen. Die Lektüre hat mich so fasziniert, dass ich nach San Francisco geflogen bin, um einen gemeinschaftsbildenden Workshop zu besuchen. Seitdem hat es mich nicht mehr losgelassen, beschäftige ich mich fast Vollzeit damit. Es ist genau das, was ich gesucht habe, das Herzstück für die Verwirklichung meines Traumes und gleichzeitig ein perfektes Antiguruprogramm.

Die Gemeinschaftsbildung nach Scott Peck hat eine sehr einfache Struktur. Man sitzt in einem Kreis. Wenn die Teilnehmer noch keine Vorerfahrung haben, wird eine kurze Einführung über die 4 Phasen und die Kommunikationsempfehlungen der Gemeinschaftsbildung gegeben. Danach kommt "Nichts" . Es wird nichts vorgegeben, kein Thema, keine Leitung, keine Übungen, nichts. Der erste gemeinschaftsbildende Workshop ist oft eine sehr ungewönhnliche Erfahrung, weil die normalen Sozialisationsmuster in diesem Rahmen nicht funktionieren. Meist ist am Anfang Schweigen, die neuen Teilnehmer sind etwas verunsichert, so etwas kennen sie nicht. Daraus wird für viele schnell ein tieferes angenehmes Schweigen. Sie entspannen sich, merken, ich muss ja nicht unbedingt etwas tun, Experimentierlust entsteht. Erste Teilnehmer versuchen sich auf Themen "zu retten" , "normale Unterhaltung" entstehen zu lassen. Aber irgendwie funktioniert das nicht so richtig in diesem Rahmen. Es werden schnell Stimmen laut, die das etwas langweilig finden, besonders wenn intellektuelle Diskussionen entstehen. Es geht nicht um Geschichten und um Themen, sondern es geht um das Hier und Jetzt. Was ist JETZT da? Was für Gefühle und Energien sind im Raum? Was für Impulse tauchen auf. Es ist eine Art meditativer Zustand, in dem aber jeden Moment etwas passieren kann.

Das ist der Anfang von einem Prozess, der sich über die 2 Tage des Workshops immer weiter entwickelt. Mehr oder weniger von alleine durchläuft eine Gruppe die verschiedenen Phasen Pseudo, Chaos, Leere/Entleerung und Authentizität. Die Begleitung greift meist nur ein, wenn die Gruppe irgendwo stecken bleibt. Man sollte denken, das kenne ich schon, das ist ein alter Hut. Das ist Encounterstil aus den Achtzigern - neu aufgewärmt. Die Gemeinschaftsbildung ist zwar, ähnlich wie der Dialog von David Bohm, aus diesen Wurzeln entstanden, es gibt aber große Unterschiede zu der damaligen Bewegung:


  1. Es geht nicht um Therapie, es gibt keine Therapeuten oder Lehrer. Das Ziel ist nicht Heilung, sondern authentische Gemeinschaft. Das eine hat zwar mit dem anderen zu tun, weil wirkliche Gemeinschaft eine heilende Wirkung hat, aber die Ausrichtung ist eine andere.

  2. Es gibt keine Leitung, keine Autorität. Es entsteht eine wirkliche Gruppenkommunikation. Die Begleitung hat die Aufgabe, sich so bald wie mö glich überflüssig zu machen. Nach ein oder zwei Wochenenden kann eine Gemeinschaft in den meisten Fällen den Prozess ohne Begleitung weiterführen. Scott Peck nennt das dann eine "group of all leaders" . Jeder ist für die Leitung verantwortlich. Der Prozess funktioniert nach dem Prinzip: Eine Gruppe ist intelligenter als ein Einzelner. Um sie entfalten zu können, braucht es Know How und Erfahrung, wie man sich als Einzelner in so einem Kreis einer "group of all leaders" verhält. Dieses Prinzip des jeder ist für die Leitung verantwortlich ist besonders für Gemeinschaften wichtig, wo es nicht ums gemeinsame Arbeiten wie in einer Firma, sondern ums Zusammenleben geht, wo hierarchische Strukturen nichts zu suchen haben.

Nach einer gewissen Zeit des "Pseudo" kommt die Gruppe automatisch in die Phase des " Chaos" . Bei anderen Methoden wie dem Dialog von David Bohm, dem Affinityprozess von Paul Ferrini, den AA/EA-Gruppen oder bei Redestabritualen versucht man, diese Phase durch feste Strukturen oder Regeln zu umschiffen. Das macht die Chaosphase einfacher, nimmt aber den Teilnehmern wichtige Entfaltungsmö glichkeiten. Das Chaos kann sehr schwierig und bedrohlich sein für eine Gruppe. Es beinhaltet aber auch viel Kraft und stellt eine Chance dar, mit Konflikten konstruktiv umgehen zu lernen und notwendige Veränderungen umzusetzen. Scott Peck spricht von einem "Laboratorium für persönliche Abrüstung" . In dieser Phase spielt auch die gewaltfreie Kommunikation eine wichtige Rolle. Das Einhalten der Kommunikationsempfehlungen (siehe www.gemeinschaftsbildung.com) stellt den roten Faden dar, an Hand dessen eine Gruppe aus dem Chaos herausfinden kann.

Der Übergang in die nächste Phase der Leere oder Entleerung ist nicht einfach, Scott Peck spricht von einer Art " Sterben" der Gruppe. Als Voraussetzung für diese Transformation muss eine Gruppe bereit sein, den schwierigen Energien und Gefühlen des Chaos nicht auszuweichen. Gelingt dies, bricht die Gruppe in Form eines Sterbe/Geburtsvorgangs in einen neuen Bereich vor - die Phase der Leere oder Entleerung. Es herrscht plötzlich eine große Offenheit, die Teilnehmer sind nicht mehr voneinander abgegrenzt, die normalen Rollen der Selbstsicherheit fallen. Man blickt hinter die Kulissen der Einzelnen. Es ist viel Nähe da. Man schaut den anderen nicht mehr durch die gewohnte kritische, " harte" Brille an. Der Blick ist " weich" und offen, wirkliches Mitgefühl ist möglich. Man sitzt im gleichen Boot, fühlt sich nicht mehr über- oder unterlegen. Die Teilnehmer entleeren sich auf eine tiefe und authentische Art von allem, was belastet oder Freude macht; berührende Momente entstehen. Die Unterschiedlichkeiten, die man noch in der anderen Phase als störend und nervend empfunden hat, werden plötzlich als eine Bereicherung gesehen, als ein wichtiges Geschenk, das jeder Einzelne der Gruppe zu geben hat. Wenn eine Gruppe sich immer weiter entleert und längere Zeit in diesem Zustand ist, bezeichnet man sie als authentisch. Es ist eine tiefe Harmonie entstanden, eine intensive, nährende Energie. Das, was die Menschen eigentlich in Gemeinschaft suchen, diese Sehnsucht tiefer Verbundenheit, wird erfüllt.

Das besondere an der Gemeinschaftsbildung ist das Fehlen von festen Strukturen. Der rote Faden sind die Kommunikationsempfehlungen, die in einem Workshop experimentell erforscht werden: Wie wirkt meine Kommunikation auf die Gruppe, unterstütze ich den Prozess oder behindere ich ihn? Baue ich Energie auf oder zerstreue ich sie? Die Teilnehmer sind oft wie ein Spiegel für den Einzelnen mit den verschiedenen Facetten und unterschiedlichen Blickwinkeln, aus denen jeder schaut. Am wichtigsten ist die Empfehlung oder Leitlinie: Höre auf Deine innere Stimme und sprich, wenn Du dazu bewegt bist; sprich nicht, wenn Du nicht dazu bewegt bist. Wenn sie gut angewandt wird, ist es, als ob die Gruppe von einer unsichtbaren Hand geleitet wird.

Diese besondere Gemeinschaftsenergie hat ihren Preis, man bekommt sie nicht umsonst. Intensive emotionelle Auseinandersetzung heißt gleichzeitig, dass man sich den eigenen Themen stellen muss. In einem Workshop oder Intensivzeiten kann man diese Auseinandersetzung noch dosiert nehmen; dehnt man sie auf den Alltag aus, wird es ernst. Das verlangt geradezu nach Wachstum und persönlicher Entwicklung mit allen Schwierigkeiten und Widerständen. Wenn man sich den eigenen Themen nicht stellen will, wird bewusst oder unbewusst die Intensität aus der emotionellen Auseinandersetzung herausgenommen, indem man sich weniger oft trifft oder die Zeiten kürzt. Es wird stattdessen lieber über Sachthemen und Organisation diskutiert, alles nach dem Motto: Der Widerstand ist mächtig, er kleidet sich in viele gute Argumente.

Auf dem Weg der Verwirklichung meines Traumes, der auch ein Weg zu mir selbst geworden ist, habe ich am eigenen Leib erfahren, warum es so viele Widerstände gibt, diese eigentlich recht einfachen Erkenntnisse umzusetzen. Sowohl in meiner Beziehung als auch auf dem Weg eine Gemeinschaft ins Leben zu rufen, muss ich immer mehr akzeptieren, wie sehr ich damit beschäftigt bin, mein Innenleben auf andere zu projizieren, um mich nicht selber sehen und fühlen zu müssen. Diesen Kurs der Reise ins Innere zu halten und nicht davon abzuweichen, weil die Erkenntnisse und gefühlsmäßigen Realitäten immer wieder so unangenehm sind, ist schwer. Dazu habe ich alleine nicht genug Kraft und Disziplin. Ohne die Unterstützung meiner Beziehungspartnerin, meines gemeinschaftsbildenden Kreises - zuerst in Hamburg und jetzt in Wien - der gemeinschaftsbildenden Jahresgruppen und den vielen Workshops hätte ich weniger Chancen, es zu schaffen. Es ist eine wichtige Hilfe, auf sanfte und manchmal auch härtere Art darauf hingewiesen zu werden, wenn ich mich mal wieder auf der Flucht befinde, ohne es zu merken oder mir meine Disziplin verloren geht. So arbeite ich weiter an meinem Traum und hoffe, dass es andere Menschen gibt, denen es ähnlich geht wie mir.

Götz Brase und Sabine Bartscherer begleiten seit einigen Jahren gemeinschaftsbildende Workshops nach Scott Peck (offene und für bestehende Gruppen) und leben in dem Wohnprojekt Alternatives Wohnen in Purkersdorf bei Wien. Weitere Informationen und Termine unter www.gemeinschaftsbildung.com

[1] "the different drum" von Scott Peck ist mittlerweile ins Deutsche übersetzt: " Gemeinschaftsbildung, die 4 Phasen zu authentischer Gemeinschaft" , bestellbar bei verlag@eurotopia.de oder über den Buchhandel.



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