Wirkliche authentische Gemeinschaft - ist so etwas möglich?
Götz Brase und Sabine Bartscherer leiten seit 2004 gemeinschaftsbildende Seminare nach Scott Peck. Nach einem Gemeinschaftskurs in unserem Seminarhaus mit der entstehenden Gemeinschaft »Ökodorf Süd« hat der Redakteur Oliver Bartsch Götz Brase zu seinen Kursen und den Zukunftschancen der Gemeinschaftsbildung befragt.
Erschienen im Connection-Magazin
Warum engagierst du dich für Gemeinschaftsbildung?
1978 bin ich in meine erst Gemeinschaft gezogen, seitdem lässt mich das Thema nicht mehr los. Mich hat es meistens zu besonders intensiven Gemeinschaften mit einer hohen Verbindlichkeit gezogen. Leider wird das meist durch Ideologie und charismatische Führungspersonen erreicht. Irgendwann hatte ich die Nase voll von den Gurus und habe geschaut, wie es geht, diese Intensität ohne Leitung zu verwirklichen. Auf meiner Suche bin ich auf das Buch »The Different Drum« (jetzt ins Deutsche übersetzt »Gemeinschaftsbildung, die 4 Phasen zur Authentizität«) von Scott Peck gestoßen und nach San Francisco geflogen, um einen Workshop zu besuchen. Das hat mich sofort fasziniert und ich habe mich zum Begleiter ausbilden lassen. Es ist kein einfacher Prozess, es gibt einige Klippen, die eine Gruppe lernen muss, zu umschiffen. Aber es lohnt sich. Es ist ein sehr wertvolles Instrument und aus meiner Sicht ein Kernstück, wenn es eine Gemeinschaft zu wirklicher Intensität und Authentizität schaffen will. Besonders fasziniert mich außerdem dabei, dass es bei der Gemeinschaftsbildung im Vergleich zu ähnlichen sprachlichen Prozessen wie Redestabrituale oder die AA-Gruppen keine festen Strukturen gibt. Man kommt mit zwölf Empfehlungen für die Kommunikation in einer Gruppe aus und es gibt die vier Phasen zur Orientierung. Das macht es etwas schwieriger zu lernen, gibt dann aber später viel mehr Freiheit und Raum.
Du hast die Ideen von Scott Peck nach Deutschland gebracht. Hast du den Urvater der Gemeinschaftsbildung persönlich kennen gelernt?
Ich habe Scott Peck nicht mehr persönlich kennen gelernt, er ist im Herbst 2005 gestorben. Ich hätte ihn noch kennen lernen können, wenn ich gewollt hätte. Er lebte aber bereits sehr zurückgezogen und ich finde seine Person in Bezug auf den gemeinschaftsbildenden Prozess nicht besonders wichtig.
Ich war nicht der erste, der die Gemeinschaftsbildung nach Deutschland gebracht hat. Um 2000 hat es bereits eine Initiative in Deutschland gegeben, die aber mehr im Bereich der Unternehmungsberatung stattgefunden hat. Das ist aber ein Ansatz, der auch in Amerika nicht wirklich funktioniert hat. Die Zeit ist wahrscheinlich noch nicht reif dafür, dass sich Firmen intensiv mit Persönlichkeitsentwicklung und Authentizität beschäftigen. Das gehört (im Moment) mehr in den privaten Bereich und damit zu den Lebensgemeinschaften.
Wie laufen eure gemeinschaftsbildenden Seminare ab?
An einem Wochenende kann man den gemeinschaftsbildenden Prozess kennen lernen. Wir beginnen mit einer einstündigen Einführung und dann geht es los. Da von unserer Seite nichts vorgegeben wird, entsteht meist erstmal Stille. Dieses Schweigen bekommt schnell eine besondere Kraft. Es ist für die meisten eine neue Erfahrung, diese spontan entstehende Stille in einer Gruppe zu erleben. Meist wird so ein Schweigen in einer Gruppe als beklemmend erlebt. Wenn es aber vorher vereinbart wird, dass es okay ist, wenn sie entsteht, kann man sich darin entspannen und es entsteht oft eine sehr kraftvolle Stille. Anders als bei einer Meditation, kann jeden Moment etwas passieren. Die Gemeinschaftsbildung bedeutet eine Kommunikationsverlangsamung. Es gibt diese Pausen, wo man den anderen spüren oder nachspüren kann, was er gesagt hat, nicht nur auf der sprachlichen, intellektuellen, sondern auch auf der emotionellen, energetischen Ebene.
Das zentrale Element bei der Gemeinschaftsbildung ist der Impuls, er leitet den Prozess.
Das zentrale Element bei der Gemeinschaftsbildung ist der Impuls, er leitet den Prozess. Er hat viel damit zu tun zu erforschen, wann haben ich einen wirklichen Impuls zu reden und wann ist es eine Reaktion. Wie äußert sich so ein Impuls, zum Beispiel auf körperlicher Ebene durch Herzklopfen, Schweiß auf den Händen oder ist es ein Gedanke, der immer wieder auftaucht. Wenn eine Gruppe dieses Reden auf Grund eines wirklichen Impulses gut beherrscht, dann leitet eine unsichtbare Hand (man könnte auch sagen die universelle Energie) die Gruppe. Dann stimmt auch das Sprichwort: Eine Gruppe ist intelligenter als ein Einzelner. Dadurch bewegt sich der Prozess mehr oder weniger nicht auf einer intellektuellen, sondern auf einer emotionalen Ebene. Es geht darum, sich wirklich zu begegnen, und das ist nur im Hier und Jetzt und nicht auf einer intellektuellen Ebene möglich.
Im Laufe eines Wochenendes durchläuft die Gruppe die verschiedenen Phasen Pseudo, Chaos, Leere/Entleerung und Authentizität. Die Teilnehmer lernen diese wirkliche Gruppenkommunikation kennen und erforschen die Kommunikationsempfehlungen für eine Gruppenkommunikation und wie das mit dem Impuls geht. Nach so einem Wochenende kann eine Gruppe den Prozess ohne Begleitung weiterführen. Es empfiehlt sich aber eine Auffrischung nach einem Jahr in Form eines weiteren Wochenendes mit Begleitung. Bei offenen Workshops, wo die Teilnehmer sich nicht kennen, stellt so ein Wochenende eine Inspiration dar, wie man es in Beziehungen, Freundschaften oder einer regelmäßigen gemeinschaftsbildenden Gruppe nutzen kann. Es haben sich in verschiedenen Städten solche Gruppen gebildet, die sich jede 14 Tage für einen Abend treffen.
Wie entsteht eine Gemeinschaft nach Scott Peck?
Eine Gemeinschaft nach Scott Peck gibt es nicht in dem Sinne. Das wäre ja wieder das gleiche Muster, wenn man sich auf eine Methode fixiert, sie zu einer Ideologie macht. Ich finde es wichtig, dass sich eine Lebensgemeinschaft in ihrem gemeinschaftsbildenden Prozess, also regelmäßig ins gemeinsame Herz zu finden, auf mehrere Methoden stützt.
Dafür finde ich eine Mischung aus sprachlichen und nonverbalen Rahmen gut. Viel wird das Forum in Gemeinschaften genutzt, das geht in Richtung Ausdruck und künstlerischen Darstellung. Ich finde außerdem Biodanza für den Zweck der Gemeinschaftsbildung gut geeignet oder auch tantrische Rituale, wenn die Mitglieder in dem Bereich Erfahrung besitzen.
Egal welche Methode man nutzt, die Gruppe und auch jeder einzelne Teilnehmer durchläuft immer (mehr oder weniger bewusst) die verschiedene Phasen auf dem Weg in ein tieferes Gemeinschaftsgefühl, ins gemeinsame Herz, in die Authentizität oder wie man es sonst noch nennen mag. Man kann allerdings den Zustand des Chaos umgehen, indem man feste Strukturen oder Leitung verwendet. Aber dann entfernt man sich auch gleichzeitig vom Leben, denn Chaos, Konflikt, schwierige Gefühle und Spannungen gehören dazu. Es ist sehr wertvoll zu lernen, wie man konstruktiv damit umgeht und nicht Konflikte vermeidet, sondern sie nutzt, um neue Wege und Veränderung zu finden.
Gibt es noch andere Gemeinschaftsmodelle?
Wie bei der letzten Frage schon erwähnt, gibt es einige Methoden, die von einer Gruppe genutzt werden können, um regelmäßig in ein tiefes und nährendes Gemeinschaftsgefühl zu finden. Im nonverbalen geht es meist nicht ohne Leitung (außer bei Kontaktimprovisationen). Im sprachlichen Bereich bevorzuge ich eindeutig diejenigen Prozesse, die ohne Leitung auskommen. Es ist gefährlich, wenn in einer Gemeinschaft jemand zu sehr in die Leitungsrolle gerät. Das wird früher oder später die Gruppe und die Mitglieder einschließlich der Leitungsperson in ihrer Entwicklung behindern.
Woran scheitern die meisten Gemeinschaften?
Nach meinen Erfahrungen achten die Gemeinschaften zu wenig darauf, dass genügend Zeit in den gemeinsamen emotionalen Prozess investiert wird. Am Anfang gibt es eine Verliebtheitsphase wie in einer Zweierbeziehung. Wenn die vorbei ist, fängt die Arbeit an. Wenn sie nicht gemacht wird, kommt irgendwann die Trennung. Die Trennung kommt, wenn Konflikt und Chaos nicht bewältigt werden und die Enttäuschung sich breit macht, weil man sich nicht mehr wirklich begegnet, dieser gemeinsame Herzensraum verloren gegangen ist. Oder man arrangiert sich, es wird langweilig und die heißen Themen werden irgendwie umschifft.
Wie sieht für dich die Gemeinschaft aus, in der du leben möchtest?
Ich möchte gerne das verwirklichen, was ich in den intensiven Gemeinschaften mit Ideologie und Guru erlebt habe. Aber eben ohne diese Krücken und Hilfsmittel. Ich glaube, dass eine Gemeinschaft sich mindestens zweimal die Woche abends und jede drei Monate für drei Tage treffen muss, um mit Hilfe von verschiedenen Methoden diesen verletzlichen Raum aufzubauen, wo man sich intensiv begegnen kann, schwierige Energien sich verwandeln können und man immer wieder genährt nach Hause geht. Diese Verbindlichkeit in einer Gruppe zu erreichen, scheint nicht so einfach zu sein. Zusätzlich halte ich eine morgendliche gemeinsame Meditation für sehr unterstützend. Warum soll es nicht möglich sein, diese intensiven und positiven Energien aufzubauen, die man bei guten Workshops erlebt? Wenn es gelingt, dass sich langsam und stetig so eine Energie aufbaut, wird das eine große Unterstützung sein für die Mitglieder und deren Beziehungen zueinander. Wir haben viel Zeit gewonnen durch die industriellen und wissenschaftlichen Errungenschaften. Warum sie weiter mit Fernsehen oder sonstigen Konsum vergeuden, wenn man über andere Wege viel mehr Befriedigung und Lebensqualität erreichen kann? Eine Gruppe kann eine wertvolle Unterstützung sein, um sich gegen das Konsumbombardement der Wirtschaft zu wehren und zu schützen.
Taugt das Scott Peck Modell auch für Lebens- und Zweiergemeinschaften?
Wenn man die Gemeinschaftsbildung in der Zweierbeziehung anwendet, hat es viel Ähnlichkeit mit den Zwiegesprächen von Michael Lukas-Möller. Auch er hat darauf hingewiesen, wie lebenswichtig es für eine Beziehung ist, sich regelmäßig zu treffen und einen Rahmen zu schaffen, wo man sich wirklich begegnen kann und man tiefer kommt als der normale Pseudozustand und das dann auftauchende Chaos bearbeitet werden kann. Zusätzlich kann Gemeinschaft einen sehr wertvollen Beitrag liefern für das Gelingen einer Zweierbeziehung. Es gibt das Sprichwort, es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen. Man könnte es noch erweitern auf es braucht ein ganzes Dorf für eine blühende Zweierbeziehung.
Ist die Gemeinschaftsbildung ein Modell des Zusammenlebens für alle Menschen?
Für den Menschen ist es ein natürlicher Zustand in Gemeinschaft zu leben, wir haben Millionen von Jahren in Stämmen gelebt. Erst vor 5.000 Jahren ist der Ackerbau entstanden, der wiederum vor rund 200 Jahren durch die Industrialisierung abgelöst wurde. Dadurch wird ein Leben in Gemeinschaft wieder möglich. Es wird wahrscheinlich länger dauern, bis sich eine neue Kultur in diese Richtung entwickelt hat. Fest steht, dass die Isolation und Vereinzelung in unserer heutigen Gesellschaft dem Menschen nicht gut tut. Aber der Weg durch die Phasen von Pseudo (Vermeidung des Konflikts) und Chaos (den Beziehungskrieg beenden) hin zu wirklicher Offenheit und Verletzlichkeit (den anderen so akzeptieren können wie er ist) ist nicht einfach. In dieser Forschungsarbeit können Lebensgemeinschaften eine wichtige Rolle spielen, wenn erkannt wird, wie wichtig das ausreichende Verwenden von geeigneten Methoden für das Gelingen von wirklich tiefer Gemeinschaft ist.
- das Gespräch führte Oliver Bartsch